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Künstliche Viren gelten als unverzichtbar für Impfstoffentwicklung und Vorbeugung zukünftiger Pandemien. Doch sie bergen auch das Risiko, als Biowaffe missbraucht zu werden. Wie der richtige Umgang mit diesem Dual-Use-Dilemma aussieht, darüber wird in der Fachwelt seit Jahren gestritten. Jetzt wirft die Corona-Pandemie neues Licht auf die Schwächen der staatlichen Regulierung. Ein Grund für die SAG, genauer hinzuschauen.

Stellen Sie sich kurz vor, Sie hätten ein Rezept entwickelt, mit dem Sie den neuen Corona-Virus nachbauen und sein Erbgut beliebig verändern könnten. Würden Sie das Rezept ins Internet stellen, so dass es für alle zugänglich ist? Ja, weil das Rezept bei der Impfstoffentwicklung hilft und Sie wollen, dass andere es dafür einsetzen können? Oder nein, weil Sie befürchten, dass jemand mit krimineller oder terroristischer Energie das Rezept missbrauchen könnte, um den Corona-Virus gefährlicher zu machen oder ihn dann wiederzubeleben, wenn er in der Umwelt ausgestorben sein sollte? Falls Ihnen die Antwort nicht leichtfällt, weil sie den möglichen Nutzen eines veröffentlichten Rezepts – einen Impfstoff – gerne hätten, das Risiko eines Missbrauchs aber ungern eingehen möchten: Wie würden Sie in diesem Dilemma entscheiden wollen? Alleine? In einer kleinen Gruppe? Oder demokratisch mit möglichst vielen, weil ja alle davon betroffen sind?

Diese Fragen sind typisch für viele Projekte der Biotechnologie, deren Ergebnisse sowohl für gute wie auch für böse Zwecke genutzt werden können und die deshalb im Fachjargon in die Kategorie der Dual-Use-Forschung fallen.

Eines dieser Projekte lief jüngst im Hochsicherheitslabor des Bundes im bernischen Mittelhäusern. Im Februar haben dort Forschende von der Universität Bern tatsächlich ein Rezept für den Nachbau des Corona-Virus entwickelt. Sie haben dazu die frisch veröffentlichte Erbgutsequenz des Corona-Virus studiert, daraus am Reisbrett geeignete DNA-Stücke abgeleitet, diese online bei der US-Firma Genscript bestellt und dann im Labor zum lebenden und ansteckenden Virus zusammengebaut. Weshalb sie das getan haben? Mit dem Nachbau des Corona-Virus wollen die Berner Forschenden es leichter machen, Medikamente zu finden und Impfstoffe zu entwickeln. Denn künstlich erzeugte Viren bieten der Forschung zwei wesentliche Vorteile: sie lassen sich leicht gentechnisch verändern und sie machen es möglich, mit dem Erreger arbeiten zu können, ohne ihn aus infizierten Menschen isolieren zu müssen.

Und wie sind sie Hochsicherheitslabor in Mittelhäusern mit dem Dual-Use-Dilemma umgegangen? Haben sie das Rezept im Internet frei zugänglich gemacht? Ja. Die Forschenden haben entschieden, dass der Nutzen einer Veröffentlichung die Missbrauchsrisiken überwiege, und haben das Rezept im Februar auf den Preprint-Server BioRxiv hochgeladen und im Mai dann in der Zeitschrift Nature veröffentlicht.

Ist die Veröffentlichung von Anleitungen, mit der sich ein tödliches und Pandemie-fähiges Virus mit online bestellbarer DNA nachbauen lässt, nicht beängstigend? Wäre es nicht besser, die Anleitung nur an Forschende weiterzugeben, die vertrauenswürdig sind? Könnten die Vorteile der künstlichen Viren nicht auch nutzbar gemacht werden, ohne das Rezept für alle öffentlich zu machen – etwa indem ausgewählte Forschungsinstitute die Aufgabe erhalten, das Virus auf Bestellung für andere herzustellen?

 Die Fachwelt ist in diesen Fragen gespalten – und zwar seit Jahren. Die kontroversen Diskussionen über den richtigen Umgang mit dem Dual-Use-Dilemma begannen 2002, als Forschende in den USA erstmals zeigten, wie sich im Reagenzglas aus künstlichen DNA-Stückchen ein Virus anfertigen lässt. Seit dies gelingt, ist die Zahl solcher Projekte stetig am Steigen. Zwei besonders kontroverse Fälle, die auch ausserhalb von Fachkreisen weltweit für Schlagzeilen sorgten: 2005 haben US-Forschende den Virus wie­der­belebt, der 1918 die Spanische Grippe verursachte – eine Pandemie, während der laut Schätzungen 27 bis 50 Millionen Men­schen starben. 2015 hat ein kanadisches Team ein Rezept veröffentlicht, mit dem sich der ausgestorbene Pferdepockenvirus zum Leben erwecken lässt. Dieser Virus ist für den Menschen zwar harm­los, aber mit dem Rezept dürfte sich auch der Erreger der Menschenpocken künstlich erzeugen lassen – ein Erreger, der dank einer globalen Impfkampagne vor 40 Jahren ausgerottet wurde, zuvor aber allein im 20. Jahrhundert noch über 300 Mil­lionen Menschen getötet haben soll.

Dass die Forschung trotz des möglichen Missbrauchs nicht auf künstliche Viren verzichten will, ist mittlerweile klar. Ihr Einsatz gilt als zu wichtig für die Impfstoffentwicklung und Vor­berei­tung auf künftige Pandemien. Klar ist somit auch, dass die Forschung der Gesellschaft zumutet, das Missbrauchsrisiko auszuhalten. Wenn jetzt immer noch eine kontroverse Debatte läuft, dann vor allem wegen der Frage: Welche Massnahmen soll die Gesellschaft der Forschung zumuten, um das Risiko möglichst klein zu halten? Dass hier eine Neubewertung ansteht, liegt an der Covid-19-Pandemie. Denn auch wenn der Corona-Virus einen natürlichen Ursprung hat, machen die gesundheitlichen und wirtschaftlichen Schäden, die er weltweit hinterlässt, spürbar, welche Folgen eine Biowaffe aus synthetischen Viren haben könn­te. Und diese Spürbarkeit wirft ein neues Schlaglicht auf die Schwächen der staatlichen Regulierung.

In der Schweiz, wie in vielen anderen Ländern auch, gelten derzeit folgende Vorschriften: Wer hochgefährliche Viren künstlich herstellt, muss vorab eine staatliche Bewilligung einholen, die Herstellung in einem Hochsicherheitslabor durchführen und dort mit Zugangsbeschränkungen und -kontrollen verhindern, dass der Virus gestohlen wird. Zudem braucht es auch für den Versand gefährlicher Viren ins Ausland eine staatliche Bewilligung. Die Absicht hinter diesen Regeln ist klar: Menschen mit krimineller oder terroristischer Energie soll es möglichst schwer gemacht werden, in den Besitz gefährlicher Viren zu kommen. Dass solche Menschen die Viren dank veröffentlichter Rezepte aus DNA nachbauen könnten, wird bisher hingegen kaum als Gefahr gesehen, die eine Einmischung des Staates bedarf. Beim Handel mit künstlicher DNA kontrollieren die Herstellerfirmen weitgehend selber, wem sie welche DNA-Stückchen senden. Und bei der Veröffentlichung der Rezepte entscheiden Forschende und Redaktionen von Fachzeitschriften in Eigenregie darüber, wie sie mit den sensiblen Informationen umgehen.

Ob diese staatliche Laisser-faire-Haltung noch zeitgemäss ist, ist angesichts technischer Fortschritte längst fragwürdig geworden. Als die ersten künstlichen Viren entstanden, waren das dafür notwendige Budget und Know-how noch so gross, dass weltweit nur wenige Fachleute darüber verfügten. Dank methodischer Fortschritte geht heute alles schneller, einfacher und billiger. Wenn aber die technischen Barrieren stetig sinken, steigt nicht allein die Zahl der Menschen, die künstliche Viren herstellen können, sondern auch die Gefahr, dass es zu einem Missbrauch der immer einfacher anzuwendenden Rezepte kommt. Die US-amerikanischen National Academies of Sciences, Engineering and Medicine (NASEM) hielt 2018 in einem Bericht denn auch fest, dass die Herstellung künstlicher Viren zu den besorgniserregendsten Möglichkeiten der Synthetischen Biologie gehört.

Dass Laisser-Faire nicht die einzige mögliche Haltung ist, zeigt sich in der Biotech-Hochburg Kalifornien. Dort ist anfangs 2020 – als Reaktion auf den Bericht der NASEM – das weltweit erste Gen-Synthese-Gesetz vorgestellt worden. Wenn es in Kraft tritt, werden die in Kalifornien ansässigen DNA-Hersteller alle Bestellungen durchleuchten müssen – die georderten DNA-Stücke daraufhin, ob sie Sequenzen gefährlicher Viren enthalten, und die Kunden daraufhin, ob sie zur Bestellung berechtigt sind. Zudem will das Gesetz die Forschung in Kalifornien dazu verpflichten, DNA nur von Firmen zu beziehen, die Bestellungen einer Sicherheitsprüfung unterziehen. In der renommierten Zeitschrift Nature Biotechnology haben Fachleute jüngst die Regierungen der Welt dazu aufgerufen, dem Beispiel Kaliforniens zu folgen.

Ob in der Schweiz der politische Wille besteht, den Handel mit DNA strenger zu regulieren? Seit Anfang 2020 gibt es hierzulande in der Einschliessungsverordnung (ESV) zwar Bestimmungen gegen die missbräuchliche Verwendung gefährlicher Organismen, aber spezifische Vorschriften zum DNA-Handel sind nicht erlassen worden. Was ebenfalls fehlt, ist eine Beratungspflicht für Forschende, die besorgniserregende Dual-Use-Forschung betreiben. Vor allem Ethikfachleute fordern hierzu seit langem, die wichtigen Entscheidungen im Dual-Use-Dilemma nicht allein den Forschenden zu überlassen, sondern der Mitsprache einer staatlichen Kommission zu unterwerfen, in der auch die Interessen der Öffentlichkeit vertreten sind. Schliesslich wären von einem Missbrauch nicht nur die Forschenden, sondern die ganze Bevölkerung betroffen. Weshalb der Bund darauf verzichtet hat, eine Kommission einzusetzen, um Dual-Use-Entscheidungen robuster, transparenter und demokratischer zu machen, ist schwer nachvollziehbar. In anderen Bereichen sind beratende Kommissionen längst üblich – so etwa bei Forschung mit Tierversuchen oder bei Anwendungen der Gentechnik im Ausserhumanbereich. Ein Grund für den Verzicht könnte sein, dass sich 2016 in einer vom Bund finanzierten Befragung von Forschenden eine Mehrheit gegen eine staatliche Regulierung der Dual-Use-Forschung ausge­sprochen hat.

Da die Covid-19-Pandemie zeigt, wie verwundbar moderne Gesellschaften durch Virusinfektionen sind, haben jüngst sowohl der UN-Sicherheitsrat wie auch der Europarat-Ausschusses für Terrorbekämpfung vor der möglicherweise steigenden Gefahr von Anschlägen mit Biowaffen gewarnt. Vielleicht ist es Zeit, Massnahmen gegen den Missbrauch von Forschungsergebnissen nicht länger als Bürde sondern als Dienstleitung an der Gesellschaft und Investition in eine sicherere Zukunft zu begreifen.

 Gastbeitrag von Benno Vogel

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